"We're all dead in heaven! So it can't be that great…"

Dienstag, 18. Juni 2013

Kreideherz

Auf meiner Schule ist es nun wohl zu etwas wie einem Ritus oder einer Tradition geworden, sich mit einem Schriftzug oder einem Herz oder ähnlichem auf der Schließfachtür der Person zu verewigen, die man liebt, in die man verliebt oder verknallt ist. Natürlich ohne, dass die Person es mitbekommt.
Oft machen das aber auch Freunde untereinander.
Die Lehrer regen sich immer wieder schrecklich darüber auf. Sie wollen das natürlich nicht und am Ende jedes Schuljahres müssen die Schüler mit Putzlappen und Schwämmen anrücken und jeder muss alles von seinem Schließfach putzen.
Während andere "Edding-Herzen wischen", bin ich oft damit beschäftigt, Spinnweben hinter Schränken in Klassenräumen zu klauben oder Tische und Stühle zurechtzurücken. Ich habe es nie wirklich vermisst, mir die Finger an den vergeblichen Annäherungsversuchen anderer an mich wund zu schrubben. Habe mich damit abgefunden, dass meine Schließfachtür unbeschrieben bleiben würde.

Nun, das Schuljahr neigt sich langsam aber sicher dem Ende zu und um mein Schließfach herum sind alle anderen beschmiert mit schiefen Herzen und unleserlichen Parolen, Insiderwitzen, ausländischen Namen und Liebesschwüren. Das ganze ist schon fast ein Kunstwerk.
Mein Schließfach erstrahlt noch immer in leuchtendem Blau, es wurde noch nicht einmal drübergewischt.
Hat doch auch was, denke ich mir und nehme das Zahlenschloss in Angriff.

Seit gestern schmückt ein riesiges weißes Herz meine Spind-Tür.
Ich komme von meinem Klassenraum um das verdammt schwere Chemie-Buch abzulagern, als ich es sehe. Verwundert bleibe ich noch einige Meter zu früh stehen.
Ich sehe mich um. Niemand beachtet mich.
Ich traue mich erst nicht, meine Tür zu berühren aus Angst, das Herz zu zerstören. Ein Herz. Für mich.
Vorsichtig streiche ich mit zwei Fingern die Linie entlang. Kreide. Tafelkreide.
Ich wische auch den Rest weg.
Auch dieses Jahr werde ich meine Schließfachtür nicht putzen müssen.
Was für ein Glück…